«Teilschuld» bei Verkehrsunfällen – Ich bin doch das Opfer! Wieso erhalte ich eine Busse?
Wenn nach einem Unfall plötzlich das Opfer zur (Mit-)Verursacherin erklärt wird, ist der Schock oft doppelt gross. Warum selbst verletzte Personen eine Busse erhalten können – und wieso frühe Beratung so wichtig ist.
Was ist passiert?
Ein sonniger Herbsttag in Luzern endete für Frau S. abrupt im Krankenhaus, nachdem sie mit ihrem Fahrrad einer plötzlich geöffneten Autotür gerade noch ausweichen konnte und dadurch stürzte. Wegen einer stark blutenden Kopfverletzung und mit dem Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung wurde sie ins nächstgelegene Spital gebracht. Noch auf der Liege fixiert, wurde sie von der Polizei zum Unfallhergang befragt. Für Frau S. war klar, dass sie Opfer des Fehlverhaltens einer anderen Verkehrsteilnehmerin war und sie keine Schuld traf.
Unsere Empfehlung
Geben Sie keine polizeilichen Aussagen, wenn Sie unter Schock (Adrenalin, Herzrasen, erhöhte Atmung etc.), unter starken Schmerzmitteln oder im Notfall kurz vor einer Not-Operation oder Untersuchung mit Verdacht auf grössere Schäden stehen. Teilen Sie der Polizei mit, dass eine polizeiliche Befragung aufgrund Ihres akuten Gesundheitszustandes zum aktuellen Zeitpunkt nicht möglich ist, und verlangen Sie einen Termin zu einem späteren Zeitpunkt.
Wie ging es weiter?
Zum Glück erlitt Frau S. nur eine leichte Gehirnerschütterung, welche schnell verheilte. Sie ging davon aus, dass mit ihrer Genesung alles überstanden sei und das Recht auf ihrer Seite stünde. Umso überraschter war sie, als sie einige Zeit später einen Bussgeldbescheid über CHF 350 vom Strassenverkehrsamt erhielt. Widerstrebend bezahlte sie die Busse in der Hoffnung, so endlich mit dem Negativerlebnis abschliessen zu können.
Unsere Empfehlung
Wenn Sie einen Busseentscheid oder Strafbefehl erhalten, der Ihnen ungerecht erscheint, holen Sie sich möglichst rasch fachliche Unterstützung – etwa bei Ihrer Rechtsschutzversicherung oder bei Fachanwälten. Kontaktadressen finden Sie hier oder bei unserer Beratung. Eine Zweitmeinung hilft, Ihre Rechte besser einzuschätzen und fundierter zu entscheiden. Ob eine Einsprache sinnvoll ist, hängt vom Einzelfall ab und muss individuell geprüft werden – auch mit Blick auf mögliche Folgen durch das Strassenverkehrsamt oder die Staatsanwaltschaft.
Wieso erhielt Frau S. als Opfer eine Busse?
Bei Verkehrsunfällen kommt es immer wieder vor, dass mehreren Parteien ein Fehlverhalten vorgeworfen wird. Auch als Opfer (mit Körperverletzung) kann einem ein Fehlverhalten vorgeworfen werden, wenn dieses zum Unfall beigetragen hat. Dies kann beispielsweise durch einen zu geringen Sicherheitsabstand, Unachtsamkeit oder eine unzureichende Anpassung an die Verkehrssituation geschehen.
So war dies auch bei Frau S. der Fall. Durch die erlittenen Verletzungen fühlte sich Frau S. als Geschädigte und frei von Schuld. Doch im Bussgeldbescheid wurde auch ihr ein Fehlverhalten vorgeworfen. Konkret warf ihr die Polizei «ungenügenden seitlichen Abstand zu parkenden Autos» vor. Mit der Bezahlung der Busse akzeptiert Frau S. den Vorwurf der Polizei und somit ihre «Teil- oder Mitschuld» am Unfall. Die Fehlverhalten der involvierten Parteien werden in unabhängigen Verfahren beurteilt und gebüsst. Daher erhielt Frau S. ebenfalls einen Bussgeldbescheid.
Klärung Unfallhergang und Verantwortlichkeit
Anstatt die Busse anstandslos zu begleichen, sollte man die Situation vorher abklären, da dies auch versicherungsrechtliche Folgen haben kann. Nach einem Verkehrsunfall ist es wichtig, den weiterführenden Prozess und die eigenen Rechte zu kennen. Unwissenheit kann die emotionale Belastung verstärken und zu vorschnellen Entscheidungen führen, wie etwa die Busse zu akzeptieren, ohne alles verstanden zu haben. Frühzeitige Beratung hilft, die Situation besser einzuschätzen, rechtliche Schritte zu prüfen und die eigene Position zu stärken.
Was kann der Vorwurf einer «Teilschuld» bei Betroffenen auslösen?
Frau S. konnte nicht nachvollziehen, warum ihr eine Mitschuld an ihrem Sturz gegeben wurde, da sie die Geschädigte des Unfalles war und im Krankenhaus lag. Durch das Schreiben mit dem Bussgeldbescheid kamen die Erinnerungen an den Unfall wieder hoch und das löste bei ihr erneut belastende Emotionen aus.
Unsere Empfehlung
Wenn Erinnerungen, Gedankenkreisen oder Bilder vom Unfallgeschehen immer wieder aufkommen und/oder starke emotionale und körperliche Reaktionen vermehrt auftreten, dann lohnt es sich, psychologische oder therapeutische Hilfe zu holen. Besprechen Sie dies mit Ihrem Hausarzt, bitten Sie ihn um eine ärztliche Verordnung – beispielsweise für Psychotherapie – und lassen Sie sich an einen Therapeuten überweisen.
Der Fall von Frau S. verdeutlicht, wie herausfordernd es sein kann, mit unklaren oder widersprüchlichen Schuldzuweisungen nach einem Verkehrsunfall umzugehen. Eine «(Teil-)Schuld» bedeutet jedoch nicht automatisch, dass man die Hauptverantwortung trägt. Dennoch kann diese Zuweisung für Betroffene eine erhebliche psychische Last darstellen – zusätzlich zu den körperlichen Verletzungen und den emotionalen Folgen des Unfalls.
Frau S. wusste vorerst nicht, dass zeitgleich mit dem Erhalt ihrer Busse die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen die Autofahrerin eröffnete. Frau S. wurde zu einem späteren Zeitpunkt als Zeugin vor Gericht geladen, um eine Aussage zum Unfall zu machen.
Im Verlauf des Verfahrens korrigierte die Autofahrerin ihre ursprüngliche Aussage, in der sie behauptet hatte, die Tür nicht geöffnet zu haben und dass Frau S. mit ihrer Handtasche am Rückspiegel des Autos hängen geblieben sei. Erst einige Zeit später gab die Autolenkerin zu, die Fahrzeugtüre ohne Blick zurück geöffnet zu haben, übernahm so ihre Verantwortung und akzeptierte die gegen sie verhängte Busse. Damit war geklärt, dass die Autofahrerin ebenfalls Mitschuld an dem Verkehrsunfall trägt, da sie, ohne rückwärtszuschauen, die Autotür öffnete. Der Zeugenaussage-Termin bei Gericht von Frau S. wurde somit hinfällig.
Unsere Empfehlung
- Treten Sie frühzeitig mit uns in Kontakt – idealerweise vor Ablauf der 3-Monats-Frist für Strafanträge und vor Fristende bei Strafbefehlen und Bussen. So können wir Sie termingemäss über Ihre Rechte aufklären, besprechen, ob ein Strafantrag zu stellen in Ihrem Fall empfehlenswert ist, und bei Bedarf Fachanwälte hinzuziehen für eine juristische Ersteinschätzung.
- Bei Vorwürfen oder Bussgeldbescheiden erklären wir Ihnen den Ablauf eines Strafverfahrens, geben unsere Ersteinschätzung und helfen Ihnen bei der Entscheidung, ob es sich lohnt, einen Bescheid anzufechten.
- In komplexen Fällen ist es ratsam, rechtlichen Rat einzuholen. Gerne helfen wir Ihnen mit unserer individuellen Einschätzung und vermitteln Sie bei Bedarf an einen unserer Fachanwälte.
Unsere Unterstützung umfasst auch die Vermittlung an Fachpersonen (medizinisch, psychologisch, juristisch) und das aktive Zuhören. Dadurch kann eine emotionale Entlastung stattfinden.
Wir sind schweizweit die einzige Fachstelle, die alle Betroffenen von Verkehrsunfällen unterstützt und mit Rat zur Seite steht. Mit allen Betroffenen sind sowohl Opfer und deren Angehörige als auch Teil-/Verursacher und deren Angehörige und Fachspezialisten (Spitalsozialdienste, Psychologen, Therapeuten …) und Beratungsstellen im Allgemeinen gemeint.
Wir bieten in unseren Beratungen für Verkehrsunfallbetroffene – im Gegensatz zu Versicherungen, kantonalen Fachberatungsstellen und den involvierten Parteien wie der Polizei, der Staatsanwaltschaft, dem Strassenverkehrsamt, etc. – eine neutrale und individuelle Beratung an, um dem Geschädigten dessen Rechte aufzuzeigen und dessen persönliche Anliegen zu beantworten.
Die Beratungsstelle der Stiftung RoadCross Schweiz ist nicht gebunden an kantonale finanzielle Zuschüsse und deren Vorgaben, durch Förderprogramme (Bund, Kanton) oder Leistungsaufträge/-verträge (bei Versicherungen).
Bei der Schadenabwicklung von Verkehrsunfällen sind wir neutral und vermittelnd tätig, um die Rechte und Pflichten der involvierten Stellen und Versicherungen ganzheitlich zu vereinen und helfen dem Ratsuchenden, somit ein übersichtliches Verständnis der verschiedenen Parteien zu erhalten.
Wie konnte RoadCross Schweiz im Beispiel von Frau S. konkret unterstützen?
Da sie uns erst acht Monate nach dem Unfall kontaktierte und die Busse bereits bezahlt war, konnte sie keinen Strafantrag wegen Körperverletzung mehr stellen. Wir halfen ihr jedoch, sie emotional zu besänftigen, die Geschehnisse zu ordnen, den Ablauf des Verfahrens zu verstehen und sie auf den Gerichtstermin vorzubereiten.
Organisationen wie RoadCross Schweiz leisten wichtige Unterstützung, indem sie rechtliche, administrative und emotionale Begleitung bieten. Durch ein besseres Verständnis können Betroffene besser abwägen, welche nächsten Schritte für Sie persönlich die richtigen sind.
Bei Fragen zu Ihrem Fall helfen wir Ihnen gerne, einen ersten Überblick zu gewinnen.
Fazit
«Teilschuld» bedeutet, dass bei einem Verkehrsunfall mehrere Verkehrsteilnehmer jeweils mit ihrem Anteil an Verantwortung (Mitschuld) zur Entstehung des Unfalls beigetragen haben.
Zum Beispiel könnte ein Fahrer zu schnell gefahren sein, während der andere nicht ausreichend auf den Verkehr geachtet hat. Das Fehlverhalten der jeweiligen Beteiligten kann unterschiedlich und unabhängig voneinander sein. Wer letztlich haftbar gemacht wird, resp. wessen Haftpflichtversicherung den jeweiligen Anteil des Schadens übernimmt, ist nicht zwingend gleichgestellt zur Schuld. Es können auch weitere Aspekte, wie beispielsweise die Betriebsgefahr (Gefährdungshaftung), ergänzend zur Haftungsquote mit einfliessen.
Ermittlung der Schuld
Die Schuldverteilung erfolgt meist durch die Polizei mittels Polizeirapport, durch Gutachten von Sachverständigen oder zu einem späteren Zeitpunkt durch den Entscheid der Staatsanwaltschaft. Dabei werden die Unfallumstände, die missachteten Verkehrsregeln und das Verhalten der Beteiligten genau analysiert.
Personenschäden
Personenschäden aus Verkehrsunfällen müssen in der Schweiz gemeldet werden. (Meldepflicht)
Der Polizeirapport wird zur Beurteilung an die zuständige Staatsanwaltschaft weitergeleitet, was zu Strafverfahren, Strafbefehlen oder Bussgeldern führen kann. Das kantonale Strassenverkehrsamt kann ebenfalls weitere Maßnahmen wie Bussgelder oder den Entzug des Führerscheins anordnen.
Haftungsquote und Rechtsfolgen
Bei Teilschuld übernimmt die Haftpflichtversicherung der Beteiligten einen Anteil an den Schadenskosten, abhängig vom Grad der Schuld. Wenn jemand zum Beispiel zu 70 % schuldig gesprochen wird, trägt seine Versicherung bis zu 70 % der Kosten.
Bei Grobfahrlässigkeit, wie Raserei, Alkohol- oder Drogenkonsum, kürzt die Versicherung auch Leistungen oder fordert Geld beim Verursacher zurück.
Eine grössere Verschuldung kann zu einer Erhöhung der Versicherungsbeiträge führen.
Weitere Beispiele von Mitverursachern von Verkehrsunfällen
- unklare Unfallhergänge
- ungeklärte Schuldfragen
- Erinnerungslücken der Geschädigten
- Fussgänger-Tram-/Busunfällen
Das Tram oder der Bus hat grundsätzlich ein Vortrittsrecht und trägt somit nur teilweise Schuld an solchen Verkehrsunfällen. Deshalb sind die häufig schwerverletzten Fussgänger oder Fahrradfahrer sowie deren Angehörige dankbar für unser Angebot. Denn bei der Frage zur (Mit-)Schuld stellt sich sogleich die Frage, welche finanzielle Haftung Fussgänger beim Überqueren der Schienen tragen, wenn es um Sach- und Personenschäden der Passagiere des Trams/Busses und die Kostendeckung von polizeilichen Abklärungen und Strassensperren geht.